Seit 2006 üben drei Pflegepersonen auf einer Palliativstation in München das Handauflegen aus. Neben verschiedenen Einreibungsarten, Massagen, Aromatherapie und Waschungen ist das Handauflegen für diese Mitarbeiter zu einem wertvollen pflegerischen Handwerkszeug geworden. Das folgende Fallbeispiel soll das Ziel des Handauflegens auf der Palliativstation aufzeigen.
Es läutete nachts auf Zimmer 60. Ich kam ins Zimmer. Frau L., 77 Jahre alt, rief mir angstvoll und ganz erregt entgegen: „Wo bin ich? Niemand ist da. Man macht mit mir Versuche. Ich sterbe.“ Ich ging zu ihr ans Bett und fragte sie: „Sind Sie aufgewacht und haben geträumt? Ich bleibe ein wenig bei Ihnen. Darf ich Ihnen meine Hände auf Ihre Füße legen?“ Sie stimmte zu. Da ich wusste, dass sie gerne betete, sprach ich ein Vater unser, während ich meine Hände auf ihre Füße legte. Sie beruhigte sich wieder. Gewann ihre Klarheit zurück und schlief nach 15 Minuten wieder ein.
Herr M. , Bronchialkarzinom, 63 Jahre alt, klingelte. Ich fand ihn ganz schwer atmend, mit blauer Gesichtsfarbe, nach Luft ringend und mit einem Engegefühl in der Brust vor. Ich sagte: „ Ich lege meine Hände auf Ihren Bauch und auf ihre Schulter. Vielleicht wird es dann besser.“ Ich nahm mir einen Stuhl, legte meine linke Hand auf seine Schulter und die rechte auf seinen Unterbauch. Ich ermunterte ihn dazu lange durch den Mund blasend auszuatmen. Nach fünf Minuten konnte er wieder ruhig atmen. Das Engegefühl wurde auch leichter.
Es geht also beim Handauflegen nicht um ein Gesundwerden in dem Sinne, dass zum Beispiel das Karzinom verschwindet, sondern entsprechend der Intention der Palliativmedizin und Pflege um Linderung von Symptomen, wie vor allem Atemnot, Angst, Unruhe oder Schmerz. Durch die Berührung mit den Händen am Körper kann der Patient besser entspannen. Wenn keine Linderung allein durch das Handauflegen eintritt, der Patient nach einem Analgetikum, Sedativum oder Neuroleptikum verlangt, das vom Palliativarzt/Ärztin angeordnet ist, wird es auch in Kombination mit dem Medikament angewendet. Der Erfolg der ärztlichen Therapie kann so verstärkt werden.
Während einer Versuchsreihe der State University in New York berührten Wissenschaftler Gewebeproben mit leicht rhythmischen Bewegungen.Dabei bildete sich Stickstoffmonoxid, das ein Botenstoff ist, der die Durchblutung fördert und somit sich das Gefühl der Wärme beim Handauflegen erklären lässt. Stickstoffmonoxid wirkt auch entzündungshemmend. Weil Berührung auch die Hirnrinde und das endokrine System beeinflusst, kann das Hormon Oxytocin ausgeschüttet werden. In der neurochemischen Forschung wird es in den Zusammenhang mit Liebe, Vertrauen und Ruhe gebracht.
Handauflegen kann das Netzwerk von Körper und Seele auf vielfältige Weise in Schwingung bringen. Es kann auch Prozesse auf der spirituellen und auf der psychischen Ebene in Gang setzen. Neue Gedankenstrukturen, Haltungen und Verhaltensweisen können entstehen. Blockierungen können aufgelöst werden und neue innere heilsame Bilder auftauchen. Letztendlich geschieht Handauflegen im Vertrauen darauf, dass alles, was geschieht, gut ist und dem Menschen in seiner Entwicklung weiter hilft und nicht schaden kann. Dazu zwei Beispiele:
Herr Frank, 58 Jahre alt, Leberkarzinom, war aus der Kirche ausgetreten und machte auch während seines zweiwöchigen stationären Aufenthaltes keine Äußerungen in Bezug auf Religion. Nach der Körperpflege, die im Bett gemacht werden musste, weil er sehr geschwächt war, fragte ich ihn, ob ich meine Hände auf seine Fußsohlen legen und ein Gebet dazu sprechen darf. Ich wollte ihm nur einfach etwas Gutes tun. Er stimmte zu. Während ich ihn behandelte, nach zirka drei Minuten, sagte er unvermittelt: „ Ich möchte den Pater sprechen.“ Nachdem der Pater gekommen war, starb Herr Frank am folgenden Tag ruhig und friedlich.
Frau Paul, 53 Jahre alt, Magen und Uteruskarzinom, war schon eine Woche auf unserer Palliativstation. Sie war noch mobil und konnte sich mit Hilfe selbst versorgen. Neben ihren körperlichen Schmerzen litt sie nach ihrer eigenen Aussage an innerer Unruhe, Unzufriedenheit und Zweifel an der Güte Gottes. Auf das Team wirkte sie sehr verschlossen. Auf ihre Bitte hin legte ich ihr an vier Tagen jeweils 15 Minuten die Hand auf. Sie bedankte sich nach jeder Behandlung mit den Worten: „ Danke, ich spüre wieder inneren Frieden!“ Das Team erlebte sie bis zur Entlassung offener, freundlicher und gesprächiger.
Bei einem Menschen, der schon im Sterbeprozess liegt, kann das Handauflegen eine segnende Haltung in dem Sinne ausdrücken, dass ich zum Beispiel ihm Frieden und Geborgenheit auf seinen letzten Weg wünsche und ihn der Güte und dem Willen Gottes überlasse. Meist geschieht das Handauflegen in einem fühlbaren Abstand zur Haut oder es ist nur ein stilles oder laut ausgesprochenes Gebet.
Das Handauflegen kann mit in die Körperpflege einfließen oder als beruhigenden und entspannenden Abschluss einer pflegerischen Handlung ausgeübt werden. Füße, Knie, Bauch, Kreuzbein und Lendenbereich des Rücken, Solarplexus und Schultern sind die Körperstellen, auf denen auf der Palliativstation meistens die Hände aufgelegt werden. An den Füßen kann sich eine erdende beruhigende Wirkung zeigen. Am Bauch und unterer Rückenbereich kann es Vertrauen vermitteln. Am Solarplexus kann es Angst lösen und einen Schockzustand mildern.
Wie bei allen pflegerischen und medizinischen Verrichtungen am Patienten ist das Einverständnis für das Handauflegen notwendig. Wenn sich der Kranke nicht mehr äußern kann, ist es während der Behandlung unverzichtbar aufmerksam seine Körpersprache wie Atmung, Bewegungen und Mimik zu beobachten.
Gerade in sehr schwierigen Pflegesituationen, wie zum Beispiel panischer Zustand eines Patienten oder massive Trauerreaktion eines Angehörigen, wenn andere Maßnahmen nicht gleich wirken, hilft das Handauflegen dem Pflegenden selbst die nötige innere Ruhe zu bewahren, schafft somit psychische Entlastung und beugt dem „Burnout„ vor. Manchmal sind unsere Hilfsmöglichkeiten begrenzt. Dann bleibt uns Pflegenden nur noch die eigenen Grenzen wahr zu nehmen und die Situation einer anderen guten höheren Macht zu überlassen. Durch das Gebet und eine ruhige liebevolle Berührung kann sich nicht nur an dem Menschen etwas ändern, sondern auch die Atmosphäre im Raum.
Es kann ein so genanntes „heilendes Feld“ entstehen. Es ist möglich die Bildung des „Heilenden Feldes“ und die Wirkung des Handauflegens auch durch die „Quantenphysik“ zu erklären. Sehr vereinfacht ausgedrückt sagt die Quantenphysik, dass alle Dinge und Lebewesen unabhängig von Zeit und Raum auf einander bezogen sind und sich gegenseitig beeinflussen. Verschiedene Wissenschaftler wie der Freiburger Physiker Prof. Hartmann-Römer, der Medizinforscher Professor Harald Walach von der Universität Northampton, und der Professor Harald Atmanspacher vom Max Plank Institut glauben, dass die Gesetzmäßigkeiten der Quantenphysik nicht nur bei den kleinsten Teilchen (Neuronen?) gelten, sondern dass die Welt auf allen Ebenen den Gesetzen folgt.
Wichtige Voraussetzung für das Handauflegen ist die Fähigkeit der Sensibilität, der Empathie und der Intuition. Nicht bei jeder Gelegenheit eignet sich das Handauflegen. Immer wieder ist es notwendig zu prüfen, zu hören und zu spüren, ob die Handlung im Moment passt. Auch ist es unabdingbar sich die innere Haltung ins Bewusstsein zu rufen, die nach Anne Höfler geprägt ist von sieben Prinzipien.
1. Gebet
Vor dem Handauflegen hilft ein Gebet, still oder laut gesprochen, sich dem Göttlichem zu öffnen. Das Göttliche ist sowohl als unsichtbare Kraft zu verstehen als auch sichtbar in der Gestalt des Menschen vor uns. Es kann ein „Vater unser“ sein oder ein anderes kurzes Gebet.
Die meisten Personen, die nach der Schule von Anne Höfler Handauflegen, beten folgendes Gebet:
„Möge die göttliche heilende Kraft durch uns fließen, uns reinigen, stärken und heilen
uns erfüllen mit Liebe, heilender Wärme und Licht, uns schützen und führen auf unserem Weg.
Wir danken dafür, dass dies geschieht.“
2. Kanal sein
Ich mache nichts. Ich öffne mich nur der heilenden Energie. Ich entspanne mich und nehme die Energie wahr, die durch meine Hände fließt. Sie kann sich zeigen in Kribbeln, Wärme usw.
3. Vertrauen
Vertrauen beinhaltet das Wissen darum, dass die Heilkraft immer da ist. Ich brauche mich nicht dazu bemühen oder anstrengen. Es geschieht das, was dem Patienten gut tut.
4. Dankbarkeit
Ich bin dankbar für die heilende Energie, die da ist und die durch mich fließt. Auch danke ich für das Vertrauen, das der Patient mir und dem Handauflegen entgegen bringt.
5. Geduld
Ich bleibe mit meinen Händen ruhig an einer Körperstelle und beobachte, was geschieht, bis ich das Gefühl habe, dass es gut so ist. Dann erst wechsle ich zu einer anderen Stelle.
6. Loslassen
All meine Wünsche, Gedanken und Vorstellungen lasse ich los. Ich versuche innerlich leer zu werden. Ich weiß nicht, was Heilung für den Menschen bedeutet, dem ich die Hände auflege.
7. Liebe
Die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst lässt sich nicht erzwingen. Sie ist Geschenk, dem ich mich öffnen kann. Respekt und Achtung für den Menschen, der vor mir ist, gebe ich mit meinen Händen weiter und nehme in ihm das Göttliche wahr.
Es ist notwendig, dass Menschen, die Handauflegen, sich in einer eigenen inneren Schulung befinden. Die „Open Hands Schule“ des Handauflegens hat die Kontemplation als Grundlage. Durch die Übung der Kontemplation und des stillen Gebetes können eigene Prozesse und unbearbeitete Themen angeschaut werden. Die Menschen innerhalb der Schule arbeiten innerhalb einer klar definierten Ethik, damit möglichst gesichert wird, dass das Handauflegen aus einer Haltung des Respekts und Mitgefühls praktiziert wird.. Die Technik ist nicht das entscheidende. Durch Einführungskurse bei Anne Höfler oder bei Lehrer/innen, die ihren Stil weitergeben, lässt sich ein Grundgerüst erlernen. Zusätzlich werden Kurse angeboten, die die Personen ansprechen sollen, die in öffentlichen Einrichtungen Handauflegen ausüben.
Für Menschen aus allen Kulturkreisen ist das Handauflegen anwendbar. Siehe das oben zitierte Heilgebet. Es ist so formuliert, dass es auch Nichtchristen ansprechen kann. Das Handauflegen ist eine seit Jahrtausend alte Methode menschlicher Heilkunst.Viele überlieferte Geschichten erzählen von ihrer Wirkung. Hierfür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe.
1.Berühren und Berührtwerden mit unserer Haut und unseren Körper ist ein elementares Grundbedürfnis des Menschen. Schon in der embryonalen Entwicklung entstehen Tastsinn und das Fühlen einer Berührung. Im Mutterleib herrscht für das Embryo vollkommene Geborgenheit und Sicherheit, wonach wir uns alle im weiteren Leben sehnen.
2. Bis in das 5. Jahrhundert vor Christus war unser menschliches Sein hauptsächlich durch das magische und mystische Bewusstsein bestimmt. Danach setzte sich weitgehend ausgehend vom antiken Griechenland das rationale Bewusstsein durch. Auf Grund der sehr alten Menschheitsgeschichte ist das magische und mystische Bewusstsein bei uns jedoch nicht erloschen, sondern wir werden bewusst oder unbewusst davon beeinflusst. Das Handauflegen berührt diese tiefen Ebenen des Bewusstseins und berücksichtigt so die spirituelle Dimension des Menschen. Handauflegen ist „Spiritualcare“ nicht mit Worten sondern mit Händen.
Für uns Christen liegt die Wurzel des Handauflegens in Jesus, der es seinen Jüngern aufgetragen hat, und in den ersten Christen, die es praktizierten. Allein über 18 mal wird über das Handauflegen im Neuen Testament erzählt. Im Kontext der Bibel hat das Handauflegen die Bedeutung der Segnung und des Einströmens des Heiligen Geistes. Es vermittelt Stärkung für den weiteren Lebensweg und für die anstehenden Aufgaben. In den Kirchen wird es praktiziert bei Firmung, Konfirmation, Priesterweihe und in der Krankensalbung. In vielen Gemeinden gibt es auch Segnungsgottesdienste vor allem für Kranke.
Zum Abschluss sei ein Ausschnitt des Briefes von Anne Höfler an Verantwortliche von öffentlichen Institutionen zitiert, indem sie zum Ausdruck bringt, dass das Handauflegen auch für die moderne Medizin eine Bereicherung sein kann.
„Warum können wir in einem Land, in dem immer wieder betont wird, dass wir eine christliche Kultur haben, die Möglichkeit des Handauflegens, die so ausführlich in der Geschichte von Jesus und den frühen Kirchengemeinden beschrieben wird, nicht wieder in unsere Sorge um die Kranken einbetten? Vielleicht ist es gerade das, was unser kränkelndes Gesundheitssystem braucht – die Erinnerung daran, dass Spiritualität heilsam ist. Und das Handauflegen berührt nicht nur die Patienten und die Menschen, die es ausüben, sondern auch die Umgebung, in der es stattfindet. Ich stelle mir ein Miteinander vor, bei denen die moderne Medizin mit allen ihren so wichtigen Errungenschaften und das Handauflegen, das Bereiche anspricht, die die Schulmedizin nicht erreichen kann, zusammenwirken.“
Quellenverzeichnis:
„ Open Hands“ Grundlagen und Praxis der Handauflegens, Anne Höfler, Knaur Verlag 2011
„Leg mir die Hand auf“ praktische Anleitung zur Behandlung von Kindern mit chronischen
Erkrankungen, Anne Höfler, Verlag Pan Edition, 2008
„Das Geheimnis der Heilung“, Joachim Faulstich, Knaur Verlag 2010 und gleichnamige Sendung in der ARD 2011